Ein Bild einer Maske

Das Ende der Maskerade, des Grauen Beginn? – Über Freiheit und Konformität

20.04.2022 19:57

Ich stehe an einer Supermarktkasse in Koblenz. Der Wocheneinkauf stand heute Morgen auf meiner Liste. Die Luft riecht nach Bananen, Fisch und einer zerbrochenen Weinflasche. Das Beschlagen der Brillengläser gehört der Vergangenheit an. Um mich herum trägt der überwiegende Teil der Kundschaft noch Masken. Die meisten Unmaskierten sind entweder sehr jung, sehr alt oder irgendwo dazwischen. Ich kann nicht einschätzen, wie hoch der Bildungsgrad der verschiedenen Parteien in der Schlange ist. Ich sehe aber einige Gesichter, genauso wie diese Leute mein Gesicht sehen. Wir gehören zum Teil derjenigen, die sich bewusst dazu entschieden haben, weitestgehend wieder wie vor der Pandemie zu leben. Das ist okay. Es ist erlaubt. Ich halte mich an Regeln, aber ich vermeide es, mich an ungeschriebene Gesetze zu halten. Das ist mein Ausdruck von Freiheit.


Blick nach Fernost und ein Würgegriff der Normen


Aber ich kenne die andere Seite. Ich war vor der Pandemie zweimal in Japan. Die Menschen dort trugen (ich erinnere mich noch dunkel an einen Artikel über das „warum“) seit SARS regelmäßig Maske. Oder auch schon davor. „Der Smog!“ vermuteten die meisten von denjenigen, mit denen ich darüber gesprochen hatte, instinktiv und nickten verständlich. Das stimmt leider nicht so ganz. Aus unterschiedlichen Quellen liegt das mal an der Schüchternheit, andererseits wiederum daran, dass man sich nicht anstecken möchte, auch sicherlich mal an der Luftqualität, aber der Grund, mit dem ich am meisten d’accord gehe, ist der Folgende: Man möchte andere Menschen nicht anstecken, wenn man selbst krank ist. Und dieser stark ausgeprägte Gedanke des gegenseitigen aufeinander Aufpassen zieht sich durch die Gesellschaft: Nach dem Unterricht wird der Klassenraum mit den anderen Mitschülerae aufgeräumt und viele ältere Menschen im Rentenalter treffen sich in ihrer Freizeit, um die Nachbarschaft sauber zu halten. Es wird erwartet, dass man sein Bestes gibt, dass man in sich in die Gruppe einfügt und mit den Kollegen nach der Arbeit Zeit verbringt.

Dieses vermeintliche Mitgefühl und der Respekt gegenüber den Mitmenschen können ehrlich gemeint sein, das kann aber auch Ausdruck einer kollektivistischen Gesellschaft sein, für deren Individuen das Missachten der sozialen Normen den gesellschaftlichen Untergang bedeuten würde und zweifelsfrei sorgt das auch für gefährliche und teilweise suizidale Auswüchse. Ich persönlich bin hin- und hergerissen. Ich mag die freie Entscheidung, ohne gesellschaftlichen Druck mein Leben gestalten zu können. Doch auch das wäre nur die halbe Wahrheit. Wer in einer Schlange steht, beugt sich diesem Druck. Wer sich bedankt, ist höflich oder beugt sich eben dem Druck. Die ältere Generation findet es befremdlich, wenn man auf der Straße nicht grüßt – viele jüngere Menschen fühlen sich hingegen unwohl, von einem Fremden angesprochen zu werden. Vor der Pandemie hatte man sich bei der Begrüßung die Hand gegeben. Das alles gehört zum guten Stil oder ist es nur ein Zeugnis der sozialen Konventionen? Fest steht, dass wir, ob gewollt oder nicht, uns diesen Regeln meistens fügen und das auch in den meisten Fällen durchaus berechtigt ist. Aber Normen werden durch Tabus aufgebrochen und Tabus werden mit der Zeit zu Alltäglichkeiten.


Krank bleibt zuhause


Und die Maske? Für mich steht fest: Maske trage ich, wenn ich krank bin. Da spielt es keine Rolle, ob es ein Corona- oder ein Rhino-Virus ist. Wenn ich Gefahr laufe, meine Mitmenschen über die Atemwege anzustecken, dann will ich dieses Risiko minimieren. Nicht aus Fürsorge, nicht aus Nächstenliebe, sondern aus reflexiver Empathie heraus. Wenn irgendwann selbst die Quarantäne wegbricht, dann sollte es zumindest mit propagandistischen Appellen als gesellschaftlich geächtet gelten, ohne Maske das Haus zu verlassen. Und wenn wir schon dabei sind: Wer krank ist, bleibt im Bett und schleppt sich nicht auf die Arbeit, um möglicherweise die restliche Belegschaft noch anzustecken. Das hat nichts mit Hysterie oder Angst zu tun, das ist für mich Risikominimierung, ganz ökonomisch gedacht und nebenbei bemerkt, nervt es mich auch noch, wenn ich bei jedem Husten und Naseputzen des Tischnachbars direkt schon an den bevorstehenden, eigenen Schnupfen denken muss, der mich möglicherweise von der eigenen Freiheit abhält. Und selbst, wenn man sich nur um den eigenen Job sorgt, herrschen hier zum Glück auch (noch) keine amerikanischen Verhältnisse, was das Gesundheitssystem angeht


Ein Kompromiss?


Trotz aller Rücksicht und Freiwilligkeit, möchte ich den Menschen wieder ins Gesicht sehen können. Ich will ablesen können, ob sich mein Gegenüber freut oder Schmerzen erleidet, ohne die Falten in den Augenwinkeln zählen zu müssen. Nicht mehr das Gefühl zu haben, sich in einem hermetisch abgeriegelten Hochsicherheitslabor zu befinden, wenn schlechte Nachrichten sowieso allgegenwärtig auf das eigene Wohlbefinden einprasseln, kann so schön befreiend sein. Ich bin dreifach geimpft, ich habe mich stets an die Regeln gehalten und dennoch habe ich nach wie vor den nötigen Respekt. Es kann jeden treffen, aber muss ich mich dafür ab jetzt für immer einsperren und müßig an alle Bevölkerungsteile denken, die darunter leiden könnten? Wie viele Wellen braucht es bis zur Endemie? Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, auch Städte abzuriegeln. Man sperrt einen kleinen Prozentteil ein, verhindert aber so einen nationalen Lockdown. Ich habe die westliche Aversion gegen eine Übernahme von guten Praktiken "schlechter" Systeme noch nie verstanden. Sicher, mit der neuen Variante kommt auch diese Methode an ihre Grenzen, aber ich gehe fast fest davon aus, dass wir die Pandemie mit dieser erzwungenen Konformität der Bevölkerung deutlich schneller bewältigt hätten.


Weg vom Totalitarismus: Zumindest ein bisschen Konformität, Gedanken an das Gemeinwohl und weniger „Ich“ schaden unserer Gesellschaft sicherlich auch nicht, aber jetzt möchte ich erst einmal meine Freiheit genießen und die Maske nur dort tragen, wo ich es wirklich muss oder wenn ich es durch Krankheit sollte.