Ein Bild einer Nuklearexplosion in rotem Farbton durch die Explosion

Reizvolle Erschöpfung

25.09.2022 18:59

Ich habe das Bild einer nuklearen Explosion provokant gewählt, weil wir uns in diesem Jahr erneut in Endzeitstimmung befinden. Eine der größten Errungenschaften der Menschheit ist so zwiespältig wie die menschliche Natur selbst. Solange es Atomwaffen zwischen zwei Widersachern gibt, wird es Frieden geben, aber wenn sie eingesetzt werden, dann werden die Worte Krieg und Frieden bedeutungslos in der Asche verschwinden und niemand wird dieses gleichnamige Werk je wieder lesen können. Aber was hat heutzutage denn noch wirklich eine Bedeutung, wo doch alles so flüchtig erscheint?

Ich scrolle gelangweilt durch den Feed von Instagram und sehe die lustigen Videos, die mich vom Stress befreien wollen und mir einfache Unterhaltung versprechen. Stattdessen schüttle ich mehrfach genervt den Kopf über die zehnte Werbung, die mir den Erfolg in Kryptowährungen verspricht. Mein Algorithmus ist kaputt und schlägt mir unsinnige Beiträge vor, weil ich aus Versehen einen falschen Post geliked habe. Wechsle ich auf die Nachrichten-App, so bringt mich Ignoranz, Gier nach Macht und Unvernunft in Rage. Erschöpft lege ich mein Smartphone weg, allerdings nur für einen kurzen Moment. Es ist unmöglich dem Reiz zu entfliehen. Dem Reiz, der mich tagtäglich begleitet. Licht. Überall ist es hell und wenn es dunkel ist, dann täuscht die Illusion, denn irgendwo brennt immer eine Diode und berichtet beiläufig über die Empfangsbereitschaft eines Geräts. Eine Analogie unserer Sinne. Informationen, Daten und ein schier ungreifbares Gewebe aus Verbindungen und Strömen, die unsere pulsierende Welt am Leben halten. Unzählige Musikvideos überfluten die Reize von Millionen von Menschen und bombardieren sie mit knalligen Farben und gehaltvollen Effekten, die sich ständig überbieten. Ein TikTok ist jetzt ein Kunstwerk, nach dem die Jüngsten streben und ihren Erfolg danach messen, wie viele virtuelle Herzen sie erlangen. Die geschäftige Menschheit atmet und entzieht Kraft im Tausch für scheinbare Erfüllung. Wir sind verbunden über das Internet und doch verebbt das Interesse aneinander, weil man ja könnte, aber tut es nicht und so lernen wir uns wieder vergessen.

Unsere Welt ist kompliziert. Kein Geschichtsbuch würde in Worte fassen können, welche Verbindungen es zwischen Staaten, Gebilden solcher, Konzernen und Vereinen gibt. Das meiste bleibt im Dunkeln, ungewiss und jeder rote Faden könnte auch ins Kriminelle hineinführen. Das klingt verschwörerisch, aber man muss sich keine Theorien ausdenken, um zu sehen, dass irgendwer, irgendwo immer eine Verbindung zu einem anrüchigen Personenkreis hat. Doch was spielt es für eine Rolle, wenn selbst die Moral sich wandelt? Ungeheure Datenmengen werden in Millisekunden ausgetauscht und bestimmen Kauf und Verkauf, manchmal über Leben oder Tod von vielen oder sind Teil eines gewaltigen Hintergrundrauschens, das omnipräsent unsere Welt formt und nicht aufzuhalten ist. Wir wollen mehr wissen, konsumieren Podcasts, während wir Autofahren, lesen Stichpunkte von Fachliteratur, weil eine Seite voll Text bereits ermüdend ist und flott ist noch nicht schnell genug. Wir sind vernetzt, verdrahtet, geschaltet und es gibt nichts, was es nicht gibt. Man hat bisweilen das Gefühl, man sei psychisch krank, wenn man diese Informationen nicht verarbeiten kann, aber im nächsten Moment ist die Nachricht schon nicht mehr von Relevanz. Nichts ist mehr greifbar, nichts von Bestand. Everything Everywhere All at Once.

Dazu kommt, dass das Individuum in der Masse untergehen zu droht und sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Wer nicht wie eine unbedeutende Drohne in einem Bienenstaat enden möchte, pocht auf seine Besonderheiten oder schließt sich jenen an, die diese beleuchten und zu eigen machen. Probleme, die es sicherlich gab und solche, von denen selbst Betroffene nicht wissen, dass sie existieren. Überall braucht es jetzt eine Trigger-Warnung, dabei ist die Schlagzahl, mit der Informationen auf uns einhämmern, so gewaltig, dass es schon für Menschen allein unmöglich ist, alle Windungen der Kunst und Neuigkeiten auf Verträglichkeit und Plausibilität zu prüfen. Algorithmen herrschen über unseren Content und bestimmen, was in Ordnung ist und was gar nicht geht. Manche schwimmen mit der Masse, manche dagegen und andere wühlen das Wasser darunter auf. Eigensinnig, wer sich nicht einer Meinung anschließt und zitiert; unreflektiert, dann dogmatisiert.

Die Götter sind fort, ihre Lehren haben ausgedient, denn die neuen Dogmen sind greifbarer und entbehren sich jeder Mystik. Jeder kann göttlich werden, den Körper stählen und den Geist auf neue Ebenen hieven. Gesundheit diktiert den Weg zum Glück. Ein Nutriscore verrät, ob ich essen soll oder nicht. Rauchen ist out, Pilze sind in. Erweitere den Horizont, aber dein Verstand allein reicht dafür nicht. Alle möchten achtsam sein, doch wer geht wirklich wachsam durchs Leben? Leid und Elend gibt es abseits der empfohlenen Wege zuhauf. Viele machen darauf aufmerksam, aber das ist zu simpel und reicht nicht, denn die Aufmerksamkeit reicht beim Rezipienten nur ein TikTok lang. Die neuen Lehren zum Göttlichen sind vielfältig und gleichermaßen vielversprechend und alle sehnen sie sich nach Glück und Erfüllung. Wenn alle Bedürfnisse befriedigt sind, dann bleibt nicht viel Zeit, sich selbst zu verwirklichen, denn der nächste Trend wartet weiter unten im Feed. Der Weg zu Gott, so einleuchtend! Einfache Antworten, die dem moralischen Kompass in diesem geschäftigen Leben einen Norden geben. Diejenigen, die sich Gott widersetzen, müssen sich auf einen langen Kampf zur Erleuchtung gefasst machen, der nicht zu gewinnen ist. Wenn eine Frage beantwortet wurde, wartet hinter dem nächsten schwarzen Loch in unsagbarer Entfernung das nächste Mysterium und niemand weiß, wer Gott erschaffen hat.

Und so prasselt all das auf uns ein, tagtäglich und die vermeintliche Unterhaltung laugt mich aus. Das Handy weglegen, ein neues Hobby lernen und im nächsten Moment vergleicht man sich wieder in einem Video mit einem kleinen Kind, das mehrere zehntausend Kilometer entfernt lebt und viel geschickter X beherrscht als man selbst, weil es immer jemand gibt, der besser als man selbst ist. Das kann Ansporn sein, aber es deprimiert zugleich. Ich habe die Welt in meiner Tasche und vergesse die schönen Dinge um mich herum. Der Sonnenuntergang hinter der Brücke im urbanen Setting ist im Netz nichts gegen den Erlebnistrip in Kappadokien mit unzähligen, bunten Ballons als Kulisse. Vergleiche, Vergleiche, Vergleiche. Ein ewiges Kräftemessen, mit der Welt und mit sich selbst und irgendwann weiß man nicht mehr, was man überhaupt erreichen möchte, wenn man nicht versteht, was man überhaupt erreichen kann. Und überhaupt ist es schwierig geworden, Dinge zu verstehen, wenn man sich nicht diszipliniert darauf trimmt, es verstehen zu wollen und die Zeit zu investieren.

Doch das Begreifen wäre Zeitverschwendung, denn das Rad der Zeit dreht sich weiter. Früher knarzte es lahm und hölzern über Staub und zermalmte die Menschen unter sich. Dann rollte es dampfgetrieben über sie hinweg und nun blinkt es, strahlt und ist lauter als je zuvor. Jeder fällt dem Rad zum Opfer, manche früher, andere später. Gemein haben sie alle, dass ihnen ein Leben geschenkt wurde. Dankbarkeit für das Leben, verborgen von unerfülltem Streben und bis zum unvermeidlichen Sterben. Doch in den Augen des anderen sucht man stumm Bestätigung. Eine Gewissheit, dass das Gegenüber kein Deep Fake ist, dass dort ein Feuer im Innern lodert und Gefühle ausbrütet. Ein Verständnis wird eingefordert, dass wir alle in diesem Strom fließen und uns dem Takt anpassen, uns hingeben und dabei nicht unsere Seele verlieren möchten. Ab und an müssen wir uns daran erinnern, dass egal wie viel wir für morgen wünschen, gestern hatten und heute suchen, wir jetzt im Moment sind und dieser flüchtig war.