Ein Bild vom Brandenburger Tor mit vielen Bussen

Das haben wir schon immer so gemacht

13.07.2022 20:01

Als ich heute eine Schlagzeile der Tagesschau gelesen hatte, traf mich beinahe der Schlag. In acht Jahren(!) will die derzeitige Regierung überall schnelles Internet ausgebaut haben. Acht lange Jahre, in denen Stück für Stück Straßen aufgerissen – vermutlich für ein halbes Jahr unpassierbar bleiben – und Kabel in die Erde verlegt werden. Eingebuddelt, versiegelt und zu warten vermutlich ein Albtraum. Ich denke dann immer an Südkorea. Dort begann der Ausbau 1990(!). Laut einem Artikel von wiwo werden dort die Kabel hauptsächlich überirdisch auf Masten platziert. Sieht zwar nicht so schön aus, aber die wenigsten Menschen blicken von ihrem Smartphone noch in den Himmel und immerhin sieht man nicht ständig ein Ladesymbol vor dem Video, das man „zwischendurch“ schauen möchte. Wenn das doch der einzige Grund wäre, weshalb ich manchmal darüber nachdenke, das Deutschland verloren und abgehängt ist, nur noch der Lebensstandard hochgehalten wird und man sich die Dinge schönredet, dann würde ich mit Sicherheit nicht immer wieder über das Auswandern nachdenken.

 

Man nehme Verwaltung, Arztpraxen und Labore, die wichtige Dokumente immer noch per Fax verschicken. Manchmal vermute ich, dass irgendwo in einer Amtsstube noch jemand sitzt und die Akten in Morsecode umwandelt. Es könnte nicht schöner sein! Die Verwaltungsfachangestellte faxt die Unterlagen und schreibt in ihrer Pause über WhatsApp eine Nachricht an ihre Freunde. Auf die Frage, warum das denn immer noch so abliefe, erntet man meistens einen missbilligend genervten Blick und die kurze Erklärung, dass das eben auf anderem Weg nicht erlaubt sei, und schließlich nutzen die Empfänger ja auch immer noch das Faxgerät. Wenn doch nur jemand den Anfang machen würde und sich konsequent dagegen zur Wehr setzen könnte! Dann sind da natürlich auch die Archive. Vielerorts in Wirtschaft und an manchen Bundesbehörden bereits digitalisiert, aber eben nicht überall. Wie sicher liegen diese Datensätze in irgendwelchen baufälligen Kellern uralter Verwaltungsgebäude? Nun gut, man könnte argumentieren, dass Deutschland nicht wirklich erdbebengefährdet ist und die Menschen hier sehr gründlich arbeiten. Moment mal, war da nicht irgendetwas bezüglich des historischen Kölner Stadtarchivs?

 

Jetzt wird auch dem letzten erzkonservativen Gasfanatiker klar, dass eine beinahe vollständige Abhängigkeit von einem Lieferanten ein grober Fehler war, den man sicherlich hätte vermeiden können. Schon rein wirtschaftlich betrachtet: Müsste es nicht im Interesse eines (Ex-)„Exportweltmeisters“ sein, die Importe zu verringern, wenn man schon nicht mehr exportieren kann als die Volksrepublik? Warum haben wir auch den Ausbau der erneuerbaren Energie so lange verschlafen? Welche Lobby ist so stark, dass man die Zukunft seiner Bevölkerung verrät? Jonglieren mit den Bedürfnissen der verschiedenen Interessenvertreter hin oder her, es kann doch nicht strategisches Ziel einer Volkswirtschaft sein, den Exportüberschuss zu mindern. Aber selbstverständlich wurde nie strategisch gedacht, denn für eine Wahlperiode von vier Jahren kann man schließlich keine Annahmen für die Zukunft treffen. Natürlich kann die Industrie nicht auf Gas verzichten, aber nicht nur Russland fördert Gas. LNG-Terminals? Brauchen wir nicht – wurde damals besprochen –, schließlich wird es bald Nord Stream 2 geben! Nun gibt es vermutlich bald gar keinen nördlichen Gasstrom aus dem Osten mehr und plötzlich steht man doof da. Das ist so ähnlich, als würde man als verwöhntes, reiches Kind auf den Kosten der Eltern leben, sich nicht um seine Zukunft kümmern, diese nun anschuldigen und dann wird man schließlich mit 30 nach einem Streit aus dem Haus geschmissen und der Kontakt abgebrochen.

 

„Die Welt lacht über uns“ oder „Deutschland schafft sich ab“. Alles provokative Aussagen, die meistens in einem rassistischen Kontext verwendet werden. Da kann man uns aber nichts vorspielen. Integration, Willkommenskultur und Diversität haben wir uns bereits auf die Fahne geschrieben, da lacht vermutlich kaum eine andere, liberale Industrienation, auch wenn das hier und da sicherlich noch stark ausbaufähig ist. Wir schaffen uns auch nicht ab, wir sind einfach in vielen Dingen furchtbar rückständig und phlegmatisch. „Das haben wir schon immer so gemacht“ kann keine Ausrede sein. Wenn man zwanzig Jahre die gleiche Sache falschmacht oder ablehnt, weil sie neu ist, so ist das keine Tradition und hat auch nichts mit konservativen Werten zu tun, sondern dann ist das einfach furchtbarer Irrsinn.

 

Vielleicht ist das mit dem Auswandern doch keine schlechte Idee. Aber kaum habe ich diesen Satz laut ausgesprochen, höre ich schon in der Ferne die Stimmen der Trägen, die Stimmen der Ewiggestrigen, die der „stolzen Deutschen“.

„Dann verschwinde doch, wenn es dir hier nicht gefällt!“, ruft ein älterer Mann mit Berliner Schnauze und setzt sich frustriert wieder auf seinen Stuhl, nachdem er eine Nummer gezogen hat und darauf wartet, dass das Fax vom Bauamt seinen Weg zur Bürgerbehörde findet. Das Dach seines Haues, in welchem er seit nunmehr fünfzig Jahren wohnt und selbst mitaufgebaut hatte, sei bei einer Ortsbegehung als nicht zulässig erachtet worden und müsse abgerissen werden.

Zugegeben, das ist vielleicht etwas überspitzt formuliert, aber letztlich bemerkt man solche wahnwitzigen Sachverhalte immer wieder mal auf irgendwelchen Regionalsendern oder durch Erzählungen. Und dann wird mir wieder schlecht, wenn ich an die Schlagzeile der Tagesschau denke. Wenn wir jetzt anfangen, um in acht Jahren schnelles Internet zu haben, sind wir immer noch vierzig Jahre hinter dem Rest der Welt.