Bild vom Himmel über Koblenz in der Nähe des Jesuitenplatz

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

14.05.2022 13:15

Die Pandemie pausiert, vielleicht ist sie auch vorbei. Das kann niemand so genau sagen. Die Menschen treffen sich auf jeden Fall wieder miteinander. Ob draußen, drinnen oder auf Festivals und anderen Kulturevents. Die Branche kann aufatmen. Es wird gelacht, es wird getanzt, geweint und geflucht. Müde sind alle von Weltgeschehnissen und anderen sich anbahnenden Krisen, aber eine Atempause ist zu spüren. Ich hatte in diesen zwei Jahren wie so viele andere genügend Zeit, neue Hobbys zu erlernen oder meine bisherigen Fähigkeiten auszufeilen. Dennoch habe ich keine Bücherserienproduktion begonnen, obwohl es wahrlich genug Themen dafür gab – ich aber keine Zeit dafür fand.

 

Ein (mehr oder weniger) stilles Örtchen

 

Ich habe mich oft gefragt, wie mein Arbeitsplatz als Schriftsteller aussehen soll. Die bisherigen Werke und Entwürfe sind an ganz unterschiedlichen Orten entstanden. Mal habe ich überwiegend in der Cafeteria einer Universität geschrieben, mal im geschäftigen Tokio, mal am Flughafen von Seoul, im schönen Hamburg und dann wiederum überwiegend zuhause am Schreibtisch, draußen auf der Terrasse oder im Winter vor dem Kamin auf der Couch. Mittlerweile muss ich das Haus verlassen, damit ich überhaupt etwas zu Papier bringe. Anscheinend habe ich mich an den eigenen vier Wänden durch das Virus sattgesehen. Dabei bin ich gerne zuhause. Aber bei meinen Ausflügen mit Notebook habe ich festgestellt, dass ich zum Schreiben keine Ruhe benötige. Im Gegenteil, nicht die Lautstärke ist wichtig, sondern die Atmosphäre, die Uhrzeit und die Stimmung, welche in der Luft liegt und die Worte beflügeln zu scheint.

Für einen gewitzten, konversationsreichen Text mit Tiefe und Authentizität verbringe ich meine Schreibzeit am besten in einem Café oder einer Kneipe, lausche den Gesprächsfetzen anderer Gäste und genieße ein kühles Kölsch oder ein Glas Wein dazu – ab und an auch beides. Für Melancholie und Pathos eignet sich hingegen die Natur und das Abendrot oder die tiefe Nacht mit dem Zirpen der Grillen. Im Herbst zu Füßen von Ehrenbreitstein von einer Empore neben dem Pegelhaus auf den Rhein zu schauen, während die herunterfallenden Blätter über den Asphalt der Promenade rascheln, erweckte hingegen den Drang nach Zärtlichkeit der Figuren in meinem Text. Wie man erkennen kann, spielt der Ort also eine nicht ganz unwichtige Rolle. Auch das Wetter hat Einfluss. Nicht nur auf meine Stimmung an sich, sondern eben auch auf die Sprache. Regen beruhigt den Fluss der Sätze in Kapiteln und reichert diese mit bedeutungsgeschwängerten Komposita aus, während Sonnenschein mich eher klar an das große Ganze denken lässt.

 

Das Traum-/Zeitkontinuum

 

Dennoch hängt nicht alles vom Ort ab. Wenn Raum und Zeit eigentlich eine Einheit bilden, dann ist nicht nur die Uhrzeit von Relevanz. Es vergehen Wochen, bevor ich die Muße finde, an einem Projekt weiterzuarbeiten oder ich produziere die Entwürfe für drei, vier Kapitel an einem Abend. Ich habe mich informiert, wie andere Schriftstellende produzieren und bin zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Chapeau an die Fantasy-Schöpfer, welche vor sprudelnden Ideen überquellen und diese auch noch zu Papier bringen. Mit der Geschwindigkeit, mit der ein Brandon Sanderson oder ein Stephen King ihre Werke an das Publikum bringen, kann ich nicht mithalten. Dann gibt es noch das krasse Gegenbeispiel, bei dem man Jahre nichts mehr von einer Autorin hört, bevor ein neues Buch erscheint. Ich befinde mich vermutlich irgendwo dazwischen, aber das kann auch daran liegen, dass ich berufstätig bin und nach acht Stunden abstraktem Denken im Code, diversen Terminen und anschließender Hausarbeit im Feierabend, nach der man eventuell noch ein wenig die Sonne genießen möchte, keine Kapazität mehr für hohe Literatur habe. Und meistens kommen mir die besten Ideen genau dann, wenn ich eigentlich keine Ideen mehr haben möchte: Vor dem Einschlafen. Natürlich merke ich mir dann diese Geistesblitze, die ich sowieso nie zu Papier bringen werde.Ich habe mich auch an meinem Vorbild Haruki Murakami orientiert und versucht, einen Rhythmus in mein Schreiben zu bringen, doch das widerstrebt letztlich meiner Vorstellung von Kunst, die für Kreativität einen speziellen Raum und für Exzellenz eine bestimmte Zeit braucht.

 

Momentaufnahme

 

Schreiben ist, und da mögen mir handwerklich Berufstätige und andere „tatsächlich wertschaffende“ Menschen womöglich widersprechen, Arbeit. Eine andere Form von Arbeit, bei der zunächst niemand zu profitieren scheint, aber schließlich doch ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Ganze Religionen fußen ihre Ideologie auf göttliche Gebote in Büchern, Gesetze benötigen einer Sammlung, Fachliteratur bildet, Rap-Texte in den Kopfhörern wären nichts ohne die Dichtung und Fiktion entspannt, unterhält oder fesselt zugleich. Das Wort ist Kultur, die Schrift birgt Information und persistiert Gedanken und Gefühle auf Papier. Es ist nicht weniger als ein Erbe, ein Artefakt aus zeitgenössischem Denken. Eine Perspektive auf einen Zustand der Schaltungen im Gehirn eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt, poliert und pointiert und mit der Zielsetzung, diese Myriade an kaleidoskopischen Eindrücken für andere Menschen zu transkribieren und in deren Gefühle zu transponieren. Aus diesem Grund ist es mir wichtig, dass alle Variablen dieser Gleichung für den richtigen Ort und die richtige Zeit zusammenpassen, damit ich meine Worte auf (digitales) Papier bringen kann. Meistens existiert dieser Moment spontan oder, um Robert Gilbert zu zitieren: „Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder“.

 

Urlaub für die Arbeit

 

Den Zustand meiner Gedanken, den ich für eine bestimmte Passage hatte, muss ich entweder festhalten oder verfliegen lassen. Selbstverständlich bleibt kein Text so, wie er geschrieben wurde. Wer einen langen Brief schreibt oder selbst eine besondere Textnachricht, ringt mit den Worten, schreibt oder tippt zu Ende und verwirft dann alles wieder. Schreiben ist ein Prozess, bei dem man iterativ die wahrsten Gefühle und den reinsten Gehalt von Information wie intendiert erfassen möchte. Das gelingt selten beim ersten Wurf. Und deshalb nehme ich mir auch für meine Bücher die Zeit. Zeit, damit der Text entsteht, damit er reift und erwachsen wird. Viel zu oft habe ich den erstbesten Entwurf verschickt und mich letztlich dafür geschämt, weil ich mir eingestehen musste, dass die Worte darin nicht den Ausdruck besitzen, den sie bräuchten. Den Entwurf einer Rede kann man in einer Kneipe lallen, ausfeilen sollte man sie jedoch nüchtern und mit klaren Zielen vor Augen. Daher nehme ich mir gerne auch Urlaub, um dieser kreativen Arbeit nachzugehen und meine Gedanken voll und in Gänze auf mein Projekt fokussieren zu können. Damit ich genügend Zeit für den richtigen Moment und die Reise zum passenden Ort finde. Urlaub von der Arbeit, für die Arbeit. Eine andere Form von Arbeit, deren Verrichtung und Vollendung nur schwer abzuschätzen ist.